Mathematische Wissenschaften (CamLex): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 24. April 2022, 16:56 Uhr
Melanchthon, Camerarius und der Stellenwert der mathematischen Wissenschaften
Im Bildungsprogramm von Melanchthon und Camerarius nehmen die mathematischen Wissenschaften eine zentrale Stelle ein. Beide äußern sich programmatisch über den hohen Nutzen von Mathematik und Astronomie und sprechen sich dezidiert für die Astrologie aus (s. dort).
Melanchthon und die Mathematik an der Universität Wittenberg
Prägend für Melanchthons Interesse an den mathematischen Wissenschaften und insb. auch an der Astrologie (s. dort) war sein Studium bei Johannes Stöffler in Tübingen.[1]
Nach seiner Berufung auf die Professur für Griechische Sprache setzte sich Melanchthon in Wittenberg maßgeblich für die Beförderung der mathematischen Disziplinen in der Artesfakultät ein. Bereits 1521 hatte er sich – nach dem Vorbild des Wiener "Collegium poetarum et mathematicorum" – für die Einrichtung von zwei mathematischen Professuren ausgesprochen.[2] Durch seine Bemühung kam 1525 zu der ursprünglichen (1514 eingeführten) Mathematiklektur eine weitere Stelle hinzu, so dass die Leucorea in Folge über eine Professur für "niedere" und eine für "höhere" Mathematik verfügte.[3] Zwischenzeitlich hatte Melanchthon, wohl während seines Rektorats 1523/24, auch Disputationen in Physik und Mathematik angewiesen.[4] Nach einer Notiz in Camerarius' Melanchthonbiographie (1566, 71) soll er "mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln" die Studenten zur Beschäftigung mit den mathematischen Wissenschaften angehalten haben, da auf diesen "alle Wahrheit des menschlichen Wissens" beruhe.[5]
Als 1536 die Neubesetzung beider Mathematikprofessuren anstand und ihre dauerhafte Teilung bestätigt worden war, wurde die niedere Mathematik (zunächst in kommissarischer Verwaltung) Georg Joachim Rheticus übertragen, dessen programmatische Antrittsrede "Praefatio in arithmeticen" Melanchthon (mit-)verfasste. Rheticus wechselte 1542 an die Universität Leipzig und wurde (nun als Vertreter der höheren Mathematik) Kollege von Camerarius, der ihn dort qua Abwesenheit über mehrere Semester vertrat (s.u.).
Die höhere Mathematik in Wittenberg fiel 1536 an Erasmus Reinhold, der wie Rheticus in Wittenberg studiert hatte. Camerarius setzt sich später auf Bitte Melanchthons[6] für die Übermittlung einer Zahlung ein, die Albrecht von Preußen für Reinholds Erstellung der "Prutenischen Tafeln" (gedr. 1551) bewilligt hatte.[7] Für das Titelblatt des Tafelwerkes hat Camerarius ein griechisches Werbegedicht verfasst, anlässlich von Reinholds Tod 1553 ein griechisches Epicedium.
Auch die Nachfolger erwiesen sich als gute Wahl (etwa Caspar Peucer sowie Erasmus Flock, Johannes Aurifaber und Sebastianus Theodoricus).[8] Wie in Wittenberg, das durch Melanchthons Initiative "zum Mittelpunkt des akademischen Mathematikunterrichts im Deutschlande der Reformationszeit" (Reich 2012, 87) wurde, wurden auch in Tübingen und Leipzig, den universitären Wirkungsstätten von Camerarius, jeweils zwei mathematische Professuren eingerichtet.
Camerarius und die Mathematik an der Universität Tübingen
In Tübingen war Camerarius als Professor für Griechisch (1535-1537) und für Lateinische Poetik (1537-1541) tätig. Seine Berufung war Bestandteil der universitären Restrukturierungsmaßnahmen, die Herzog Ulrich von Württemberg nach seiner Bestätigung als Landesherr 1534 und dem Beginn der Reformation des Fürstentums eingeleitet hatte. Camerarius beteiligte sich (in Austausch mit Melanchthon) an der Neustrukturierung, arbeitete eine Neufassung der Statuten von Universität und Artistenfakultät aus und war u.a. für die Personalpolitik derselben verantwortlich.[9] Während seiner Zeit in Tübingen wurde die Mathematik von Philipp Imser, Schüler und Nachfolger Stöfflers, sowie Johannes Hiltebrand vertreten.[10] Imser war auch als Instrumentenbauer tätig und die Tübinger Universität verfügte über instrumenta mathematica aus dessen Werkstatt; als Geschenke verehrte er ihr 1540 einen hölzernen, 1554 einen metallenen Himmelsglobus.[11]
Die Tübinger "Forma studii" verband mit der Professur für Mathematik und Astronomie sowohl theoretische als auch praktische astronomische Unterweisungen.[12] In diesem Sinne förderte auch Camerarius, 1538 Rektor der Universität, die mathematischen und astronomischen Kenntnisse der Tübinger Studenten, wie etwa aus dem kleinen Gedichtband zur Sonnenfinsternis von 1539 hervorgeht. Hier setzen sich auch seine eigenen astronomisch-astrologischen Interessen fort, die sich beispielsweise in den 1535 erstmals in Nürnberg gedruckten lateinischen Arat-Bearbeitungen ("Phaenomena" und "Prognostica") manifestieren oder in der im selben Jahr bei Petreius erschienenen Ausgabe von "Tetrabiblos" (ed. pr. mit lat. Übersetzung der ersten beiden Bücher und Erläuterungen) und „Karpos“ (mit lat. Übersetzung Pontanos) und der Edition zweier jüngerer Astrologica aus dem Regiomontan-Nachlass.
Camerarius und die Mathematik an der Universität Leipzig
Nach seiner durch Melanchthon nachdrücklich betriebenen Berufung an die Universität Leipzig auf die Professur für Griechisch und Latein (1541-1574) wird Camerarius schnell in die dortigen Reformbemühungen Caspar Borners einbezogen und Teil eines Siebenmännerkollegiums, das von Herzog Moritz von Sachsen offiziell mit der Neustrukturierung der Universität beauftragt wird. In mehreren Briefen zeigt sich Camerarius enttäuscht über die herrschenden Zustände und nicht weniger ungehalten über die aufwendige, schwierige und für ihn unerwartete Aufgabe.[13] Im Zuge der Reform, die 1544 im Wesentlichen abgeschlossen war (mit einer Neufassung der allgemeinen Statuten und der Artesfakultät, für die Camerarius verantwortlich zeichnet), wurden die "walzenden Lektionen" in der Artistenfakultät endgültig abgeschafft und eine Reihe fester Professuren auf Lebenszeit installiert, etwa die Professur für höhere Mathematik.
Für diese konnte Georg Joachim Rheticus gewonnen werden, der 1542 von Wittenberg nach Leipzig wechselte. Während einer mehrsemestrigen Abwesenheit wurde er von Camerarius vertreten, der u.a. über Proklos' "Hypotyposis" las (s.u. Camerarius und Joachim Rheticus). 1549 erschien eine (nominell) von Rheticus herausgegebene zweisprachige Ausgabe der ersten sechs Bücher von Euklids "Elementen", für die Camerarius die lateinische Übersetzung und ein unter Rheticus' Namen verfasstes Vorwort beisteuerte.
Camerarius hatte sich auch für die Anstellung des Mathematikers Johann Hommel eingesetzt, der zunächst über die medizinische Fakultät zwischenfinanziert wurde, 1551 die Nachfolge von Rheticus antrat und 1558 Camerarius' Tochter Magdalena heiratete; mit ihm beobachtete er auch den Komet des Jahres 1556 (s.u. Camerarius und Johann Hommel).
In die Leipziger Zeit fallen neben der Euklidausgabe weitere Werke, die Camerarius für den mathematischen Unterricht verfasste, etwa eine Einführung in die Logistik unter Verwendung griechischer Quellen (1557), deren korrigierte Neuauflage (1569) um einen auf griechischen Scholien basierenden Kommentar zu Nikomachos' "Introductio arithmetica" erweitert wurde (s.u. Lateinische Lehrwerke auf Basis griechischer Handschriften). Dazu kommen einige Projekte, die nicht in den Druck gelangten, etwa eine Übersetzung und Kommentierung von Proklos' "Hypotyposis", über die Camerarius gelesen hatte (dazu und zu weiteren Vorhaben [Ps.-Proklos, Diomedes] s.u. Geplante Projekte und Vorarbeiten). Mathematische quaestiones finden sich mit denen anderer Disziplinen in von Camerarius präsidierten Leipziger Disputationen sowie in postum herausgegebenen Sammlungen (s.u. Mathematische quaestiones). Diese beschäftigen sich mit zahlreichen Themen, darunter auch Fragen der Analogie/Proportionenlehre, mit denen sich Camerarius in Leipzig auch in gebundener Sprache und auf Griechisch auseinandersetzt (s.u. Griechische und lateinische Dichtungen).
Melanchthon und Camerarius über die Bedeutung der Mathematik
Melanchthon stellte die Bedeutung der Mathematik in Programmreden (auch für Dritte, s.o.) und in zahlreichen Widmungsbriefen und Vorworten zu lateinischen mathematischen und astronomischen Lehr- und Grundlagenwerken antiker, mittelalterlicher und zeitgenössischer Autoren heraus und engagierte sich für deren Verbreitung.[14] Camerarius publizierte, wie erwähnt, auch selbst Texte für den mathematisch-astronomischen Unterricht, die er mit entsprechenden Paratexten versah. Zentral für die Hochschätzung der Geometrie als apriorische und dem Menschen angeborene Wissenschaft mit ubiquitärem Nutzen ist hier der Christoph von Karlowitz zugeeignete Widmungsbrief zur o.g. zweisprachigen Euklidausgabe (1549).
Für Camerarius wie auch für Melanchthon spielen pythagoräische und (neu)platonische Zugänge zur Mathematik eine wichtige Rolle und nehmen diese auch bei ihren Ausführungen zur Bedeutung der Mathematik und deren Bildungswertes ein. Grundsätzlich hat die Mathematik vielerlei praktischen Nutzen, sie schult das logische Denken und befördert zugleich Tugenden wie Wahrheitsliebe, Sorgfalt und Mäßigung. Arithmetik und Geometrie gewähren Wissen durch sichere Beweise, sind methodologisches Modell und Propädeutik für andere Fächer und die Grundlage für die Astronomie, die damit zu einer 'exakten' Wissenschaft wird. Zentrales Moment der Mathematik ist allerdings die Verweisfunktion auf Gott, da sie (als zu pflegende Gabe Gottes) zur Erkenntnis des sich in mathematischen Strukturen fassbaren Weltenbaus und der Weltenlenkung und damit schöpfungstheologisch zur Gotteserkenntnis (qualis sit Deus) im Sinn einer Gesetzeserkenntnis führt (während die Erkenntnis der essentia Dei, die Heilstheologie, der biblischen Offenbarung vorbehalten bleibt).[15] Die Mathematik wird so zur 'Dienerin' der Theologie, macht die Natur und den sich in ihren Elementen manifestierenden Willen Gottes lesbar und bestärkt Glauben und Frömmigkeit. Die Vorstellung des Deus geometra in der Tradition des platonischen "Timaios" weist dabei die menschliche Ausübung der Geometrie als gottgefällige Tat, ja Verpflichtung aus.[16]
Die Betonung des hohen Stellenwertes der Mathematik innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen zeigt sich immer wieder verbunden mit Klagen über ihre Vernachlässigung (an den Hohen Schulen wie an den Höfen)[17] und die ungerechtfertigte Geringschätzung der Mathematiker. Überschwenglich ist demgegenüber das Lob für Förderer der mathematischen Wissenschaften, etwa den Nürnberger Rat.[18]
Camerarius' Schriften zu den mathematischen Wissenschaften - Formate und Inhalte
Vermittlung antiker griechischer Werke: Edition – Übersetzung – Kommentar
In der Korrespondenz des Camerarius und auch in Paratexten zu seinen Drucken findet sich wiederholt die Klage über wenig verlässliche Textgrundlagen und über fehlerhafte bis sinnentstellende Übersetzungen. Besonders prekär zeigt sich die Lage für griechische Fachtexte, die für Camerarius wie für Melanchthon einen unschätzbaren doppelten (disziplinären und sprachlichen) Nutzen besitzen. Camerarius setzt hier mit seiner philologischen und fachlichen Kompetenz an, nicht ohne auch Mathematiker (etwa Johann Hommel oder Valentin Thau) zu konsultieren, oder die Drucklegung unter Aufsicht eines Mathematikers (etwa von Sebastianus Theodoricus) zu stellen. Es gelang ihm jedoch nicht, alle geplanten Projekte zu vollenden bzw. in den Druck zu bringen.
Realisierte Projekte
- In den 30er Jahren gleich mehrfach gedruckt wurden Camerarius' lateinische Bearbeitungen von Arats "Phainomena" und "Diosemeia". In diesen umfangreichen Lehrdichtungen ("Phaenomena" und "Prognostica", Erstdruck 1535) setzt er sich, wie Walter Ludwig gezeigt hat (Ludwig 2003) kreativ und eigenständig mit den griechischen Vorlagen auseinander. Er scheint damit ein älteres Projekt Philipp Melanchthons aufzugreifen: Dieser hatte sich auf Anregung seines Tübinger Lehrers Johannes Stöffler schon 1518 intensiver mit einer Arat-Übersetzung beschäftigt, diese aber nicht publiziert.[19] 1521 gab Melanchthon dann die "Phainomena" als Studienausgabe in Wittenberg heraus (mit großzügigem Durchschuss und breitem Seitenrand für Kommentierungen) und las 1522 darüber. In der Dedikation an Hieronymus Baumgartner (aiv-aiir) betont Melanchthon sein Programm, Schriften von Autoren zu edieren, anhand derer man die griechische Sprache und Wissenschaft lernen könne[20] und die zugleich Sprache und Geist bildeten. Arat sei für diese Doppelfunktion aufgrund seiner Qualität als Dichter und Vermittler von Naturwissen hervorragend geeignet (aiv-aiir). Unter den nondum edita des Camerarius, der in Tübingen und/oder Leipzig ebenfalls über Arat gelesen haben dürfte, soll sich laut Summerus 1646 (D4v) auch ein Kommentar zu den "Phainomena" befunden haben.
- Verwirklicht hat Camerarius mit Georg Joachim Rheticus eine komfortabel zu benutzende zweisprachige Ausgabe der ersten 6 Bücher von Euklids "Elementen". Für diese 1549 gedruckte, illustrierte Edition (Neuauflage 1577 mit demonstrationes von Moritz Steinmetz zu den ersten drei Büchern) steuerte Camerarius die lateinische Übersetzung und – unter Rheticus' Namen – die programmatische Widmung an Christoph von Karlowitz über den ubiquitären Nutzen der Geometrie als den Menschen angeborene, apriorische Wissenschaft bei. Hierin proklamiert Camerarius sowohl die mathematische als auch sprachliche Leistungsfähigkeit der Ausgabe: Die vorgelegten sechs Bücher seien unabdingbare Grundlage für die Beschäftigung mit der Mathematik; zugleich ermögliche die (alternierende) zweisprachige Ausgabe ein Erlernen des Griechischen, das als Wissenschaftssprache eine besondere Qualität besitze.
- Auch in späteren Jahren interessiert sich Camerarius für Überlieferungszeugen zu Euklid. So bemüht er sich 1567 um einen wertvollen Codex aus dem Besitz des Johannes Sambucus, der sämtliche Werke Euklids (und weitere Texte zur Geometrie) enthielt. Sambucus hatte ihm ein Verzeichnis seiner reichen Buchbestände zukommen lassen und Entleihungen angeboten.[21] Allerdings erschienen Camerarius die Bedingungen, die (sein ehemaliger Leipziger Schüler) Sambucus für die Übersendung der Handschrift in einem Brief an seinen Sohn Joachim stellte[22] als nicht akzeptabel und er nahm von der Abfrage Abstand.[23] Sambucus hatte für eine zehnmonatige Ausleihe des mit Textfiguren und Annotaten reich ausgestatteten Codex ein Pfand von 200 Talern oder einen Bürgen verlangt. Sambucus versuchte, bei Camerarius einzulenken,[24] doch ist unklar, ob dieser die Handschrift in Folge in Leipzig erhielt. Zumindest dürfte er sie bei seinem Wienaufenthalt im Folgejahr eingesehen haben, bei dem er auch Bücher aus Sambucus' Bibliothek vor Ort entleihen konnte.[25] Er mahnte jedenfalls Sambucus beständig, mathematische Werke aus seinem Besitz drucken zu lassen.[26] Seit etwa 1570 befindet sich der begehrte Codex dann bei Konrad Dasypodius, der ihn von Sambucus für seine bei Episcopius geplante Edition und Übersetzung erhalten hatte,[27] aber die Texte weder heraus- noch die Handschrift an Sambucus zurückgegeben hat.[28]
Geplante Projekte und Vorarbeiten
Auch bei Camerarius gelangten einige Vorhaben zu Edition, Übersetzung oder Kommentierung antiker griechischer mathematischer und astronomischer Schriften nicht in den Druck.
- Summerus 1646 (D5v) führt unter den (opera) imperfecta sowohl einen Kommentar in Hypotyposes Procli als auch eine Übersetzung und Auslegung von dessen Hypotheses an (es handelt sich um dasselbe Werk, die "Hypotyposis astronomicarum positionum"). Tatsächlich las Camerarius zweimal in Leipzig während der Abwesenheit von Georg Joachim Rheticus über Proklos' "Hypotyposis", im SS 1546 (am griechischen Original; editio princeps von Simon Grynäus, Basel 1540) und im SS 1548 (mit eigener diktierter lateinischer Übersetzung und Kommentierung). Zur Vorlesung von 1548 existiert eine studentische Mitschrift von Philipp Wagner aus Pegau.[29] Nach einer Einführung von Camerarius (1r-6r) folgt (6v-30r) eine "Versio" von Kapitel 1 der "Hypotyposis" in einzelnen Tranchen mit Kommentierungen und Figuren, dann folgen in derselben Weise ausgewählte Stellen des 2. Kapitels (30r-58v). Auf 58v findet sich ein Vermerk in roter Tinte, dass ab hier (Kapitel 3) Rheticus die Vorlesung wieder übernommen hat.[30]
- An einer Publikation von Camerarius' Übersetzung bestand großes Interesse: So bittet Melanchthon ihn etwa 1552[31] mit Verweis auf die sinnentstellende Übertragung von Giorgio Valla[32] um eine dringend nötige, korrekte Version. Camerarius kam dieser Bitte nicht nach und so musste Andreas Dudith 1568 (wiederholt) um eine Abschrift der lateinischen Übersetzung anfragen, von der ihm Rheticus ein kurzes Stück gezeigt hatte.[33]
- Zwei von ihm selbst angekündigte Projekte konnte Camerarius ebenfalls nicht in den Druck bringen:
- Im Widmungsbrief von "De notis numerorum" an Johann Ulrich Zasius (dat. 27.11.1556) berichtet er von seiner aktuellen Beschäftigung mit (Ps.-)Proklos' "Sphaera" und kündigt an, eine Erklärung des Werkes fertigzustellen und zu publizieren, sobald es die Zeit zulässt.
- Im Begleitbrief zur Neuauflage von "De notis numerorum" an Sebastianus Theodoricus (dat. 25.08.1569) kritisiert er die inakzeptable Qualität der kursierenden Druckausgabe von Kleomedes' "De motu circulari corporum caelestium" und stellt auf Basis einer Handschrift, die er von Hieronymus Baumgartner noch zu dessen Lebzeiten erhalten hatte, eine Neuausgabe und -übersetzung in Aussicht. Bei der kritisierten Edition dürfte es sich um die von Marcus Hopper herausgegebene zweisprachige Sammelausgabe handeln, die neben Kleomedes' Schrift auch (Ps.-)Proklos' "Sphaera", Arats "Phaenomena" und die "Descriptio orbis habitabilis" des Dionysius Periegetes enthielt.[34] Hopper und Heinrich Petri hatten hier "als Hilfe für die Anfänger" (iuvandi rudiores studio facimus, †6r) die griechischen Texte und die lateinischen Übersetzungen parallel nebeneinander gesetzt und dies auch auf dem Titelblatt beworben.[35] Die lateinische Kleomedes-Übersetzung stammte (wie die von Melanchthon verworfene zu Proklos' "Hypotyposis") von Giorgio Valla. Camerarius scheint das Vorhaben einer eigenen zweisprachigen Neuausgabe schon etwas länger verfolgt zu haben: bereits 1558 hatte er seinem Schwiegersohn Johann Hommel Textproben aus Kleomedes (Cleomedea quaedam) mit Übersetzung geschickt[36] und ihn u.a. um die Überprüfung von drei markierten Stellen gebeten.
- Die Drucklegung wurde jedoch ebensowenig realisiert wie die seines geplanten Kommentars zu (Ps.-)Proklos' "Sphaera".
Lateinische Lehrwerke auf Basis griechischer Handschriften
Auf der Grundlage griechischer libelli, die Camerarius über den Augsburger Patrizier Johann Baptist Haintzel erhalten hatte, publizierte er 1557 eine didaktisch aufbereitete lateinische Einführung in die Logistik. Dem eigentlichen "Tractatus logistices" voran gehen philologische Überlegungen sowie basale Ausführungen zu den Zahlen und ihrer Einteilung.[37] Der "Tractatus" beginnt mit einem Rekurs auf Zahlschriften und Zählpraktiken und handelt dann die Grundrechenarten, Wurzeln und Potenzen, Verhältnisse und Proportionen ab. Es folgt eine Sammlung gemischten Inhalts (v.a. προβλήματα zu Proportionen, darunter auch zur Würfelverdoppelung), danach eine Zusammenstellung von "Παίγνια λογιστικά" (u.a. Widerlegungen von Trugschlüssen oder unterhaltsame Textaufgaben, in quibus cogitationem puerilem exerceri prodest, F4r). Camerarius verweist hier auch auf ähnliche Aufgaben, die seiner "Ἀριθμολογία ἠθική" (Erstausgabe 1551) beigegeben sind.[38] Den Abschluss bilden Erklärungen zu mathematischen Stellen in Werken Platons (aus dem "Theaitetos" und den Büchern 7 und 9 der "Politeia") sowie einem bei Athenaios referiertem Problem. Die Druckausführung in der Nürnberger Offizin von Joachim Heller war jedoch so mangelhaft, dass Camerarius 1569 eine berichtigte Neuausgabe bei Johann Krafft d.Ä. in Wittenberg drucken ließ und die Druckaufsicht dem dortigen Mathematiker Sebastianus Theodoricus überantwortete. Dieser Ausgabe war eine – nach eigenen Aussagen – vorlagengetreue Übersetzung eines griechischen Kommentars zur "Introductio arithmetica" des Nikomachos von Gerasa beigefügt. Manuel Huth hat die handschriftliche Vorlage, die Camerarius von Hieronymus Baumgartner erhalten hatte (und auch nach dessen Tod immer noch besaß)[39] identifiziert.[40] Dadurch erhellt sich, dass Camerarius – anders als es seine Äußerung erwarten lässt – nicht einfach einen griechischen Fließtext übertragen hat; vielmehr hat er auf Basis der in der Handschrift vorgefundenen Scholien eine Kommentierung (mit vielen Eigenanteilen) erarbeitet und sich auch kritisch mit dem Text auseinandergesetzt.[41] Beigezogen hat Camerarius (wie er im Brief an Theodoricus erwähnt) auch Teile aus Ps.-Jamblichs "Theologumena arithmeticae" (Paris 1543). Diese verwendet er paraphrasierend und ohne weitere Kennzeichnung in einem beigefügten Teil über den Symbolgehalt der Zahlen ("Arithmeticae Symbolae", P4v-Q5v). Als 'Lagenfüller' schließen den Druck mehrere kurze Texte mit unterschiedlichen mathematischen Inhalten ab.
Mathematische quaestiones
Eine ganze Reihe mathematischer quaestiones findet sich in den gemischten "Problemata"-Anhängen von Disputationen, die Camerarius in den 1560er Jahren in Leipzig präsidierte.[42] Sie stammen aus den Bereichen Arithmetik (auch Analogie), Geometrie, Astrononomie, aus der pythagoreischen Zahlenlehre und der platonischen Philosophie. Auch terminologische Fragen werden berührt. Die 1594 postum erschienene umfangreiche Sammlung "Decuriae συμμίκτων προβλημάτων" enthält drei mathematische quaestiones: Eine zur Harmonie- und Proportionenlehre mit Zitat und Übersetzung aus Camerarius' "Versus senarii de analogiis" zur Auffindung der Mitten,[43], eine zum Schattenwurf der Pyramiden,[44] eine zu ratio und cogitatio bei Aristoteles mit Referenz auf Dreieck und Quadrat[45]. Ein Block von weiteren 11 mathematischen quaestiones liefert die 1596 publizierte "Appendix problematum" im Abschnitt "Mathematica" (58-67). Auch sie bieten Vermischtes, darunter einiges zur Zahlen- und Proportionenlehre, sowie eine Frage zur Mechanik (Wirkungen von Kräften auf Stock) und zu Kegelschnitten.
Kurzprosa
[Text vorhanden]
Griechische und lateinische Dichtungen
[Text vorhanden]
Übersetzungen zeitgenössischer Schriften
[Text vorhanden]
Camerarius' mathematische Netzwerke
Anmerkungen
- ↑ Zu Stöffler vgl. etwa Betsch 2008.
- ↑ MBW – Regesten online, Nr. 146 an Georg Spalatin, dat. 14.06.1521.
- ↑ Johannes Volmar, der seit 1519 die Lektur innehatte, erhielt die Professur für höhere, Johannes Longicampianus die für niedere Mathematik, sein Nachfolger wurde 1529 Jakob Milich. Nach dem Tod Volmars und dem Wechsel Milichs an die medizinische Fakultät waren beide Stellen 1536 vakant.
- ↑ Schöneburg 2007, 13.
- ↑ Quia vero sciebat (scil. Philippus Melanchthon) omnem humanae scientiae veritatem mathematicis disciplinis contineri, neque sine his aut doctrinam certam, aut stabilem cognitionem esse ullam, quibuscunque modis poterat ad has colendas studia iuventutis invitabat & alliciebat.
- ↑ MBW – Regesten online, Nr. 3784, dat. 04.01.1545.
- ↑ Camerarius' Einsatz scheint erfolgreich gewesen zu sein, da sich Melanchthon ein halbes Jahr später bei Albrecht für 50 Gulden bedankt, die Reinhold erhalten habe (MBW – Regesten online, Nr. 3949, dat. 15.07.1545).
- ↑ Zu den Wittenberger Lehrveranstaltungen im Bereich der Mathematik und Astrologie zu Melanchthons Zeit vgl. Singer 2012, hier: 66-87.
- ↑ Zur Reform der Artistenfakultät vgl. Hofmann 1982, 4-15; zu Camerarius' Tätigkeiten in Tübingen vgl. Schultheiß 2017 mit weiterer Literatur.
- ↑ Imser wurde nach Stöfflers Tod am 1. Juni 1531 für die "Lectio mathematices et astronomiae" angestellt und gehörte dem Tübinger Lehrkörper bis 1557 mit Unterbrechungen an: So ging er nach dem Erlass der herzoglichen Reformation vom 30. Januar 1535 nach Freiburg, wo er bis Anfang Mai 1537 blieb, wohl um "die Entwicklung der Reformation außerhalb Tübingens abzuwarten" (Hofmann 1982, 131). Ab 1536 wurde er durch Hiltebrand vertreten, der im Juli des Jahres nach Tübingen gekommen war und über hebräische Grammatik sowie anfangs extraordinarie über Euklid las. Dieser behielt nach der Rückkehr Imsers die "Lectio Euclidis arithmeticae et geometriae".
- ↑ Hofmann 1982, 143f.
- ↑ Hofmann 1982, 144.
- ↑ Dazu und zur Reform Woitkowitz 1997, 35-37; Woitkowitz 2003, 91-97; Woitkowitz 2003a, 65-69; Kößling 2003a; Rudersdorf 2003; Rudersdorf 2009, 351-391; Rudersdorf 2015.
- ↑ Eine Übersicht bieten etwa Reich 2012, 38-55; Reich 2017, 561-570.
- ↑ Vgl. dazu Camerarius' Widmungsbrief von "De analogiis" an Wolfgang Meurer. Lat. Text und Übersetzung in Auszügen in Huth masch., 200-206.
- ↑ Das Konzept des Deus architectus mit Rekurs auf Platon findet sich prominent in der von Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer vorgetragenen Rede "De studiis veteris philosophiae" (1557), CR 12, 246f.
- ↑ Vgl. etwa MBW – Regesten online, Nr. 1595 an Georg Hartmann, dat. 08.08.[1535?].
- ↑ Vgl. etwa MBW – Regesten online, Nr. 1770 an Johannes Schöner, dat. [07.]08.1536; MBW – Regesten online, Nr. 1927 an den Nürnberger Rat, dat. vor 05.08.1537. Vgl. auch Camerarius' Elogium auf den Rat und die Stadt Nürnberg in seiner Widmung an den Rat, die Grynäus' Edition des Theonkommentars zum "Almagest" (1538) begleitet. Vorlage der Ausgabe war eine Handschrift aus dem Besitz der Ratsbibliothek (Regiomontan-Nachlass), die Grynäus durch Camerarius' Vermittlung als Leihgabe erhalten hatte.
- ↑ MBW – Regesten online, Nr. 18 = Widmung von "De artibus liberalibus" an Stöffler, A1v; Übersetzungen von zwei Stellen aus den "Diosemeia" in CR 12, 271f.
- ↑ Sedulo hactenus operam dedimus, ut eiusmodi scriptores scholae nostrae proponeremus, e quib[us] praeter loquendi rationem etiam rerum Graecarum scientiam delibaret iuventus. Nam efficacissime commendari linguae studium utilitate iudico, aiiv.
- ↑ OCEp 1206, dat. 21.01.1567; zur Bibliothek des Sambucus Almási 2009, 217f.
- ↑ Clm 10367, Nr. 295, ed. Gerstinger 1968, 81f., dat. 25.03.1567.
- ↑ OCEp 1207, dat. 24.04.1567.
- ↑ OCEp 3257, dat. 01.06.1567.
- ↑ OCEp 1209, dat. 09.-11.1568.
- ↑ Vgl. etwa OCEp 1207, dat. 24.04.1567.
- ↑ Dasypodius an Andreas Dudith, dat. 03.12.1571, ed. Szczucki/Szepessy 1995, Nr. 272, hier: S. 322f., Z. 20-24.
- ↑ Sambucus an Theodor Zwinger, dat. 12.03.1576, ed. Gerstinger 1968, 190-193 und weitere Briefe an ihn; Sambucus an Joachim Camerarius II., dat. 07.07.1577, ed. Gerstinger 1968, 221f. In diesem Brief erwähnt Sambucus auch, dass Camerarius den Codex für den besten hs. Textzeugen der Werke Euklids gehalten habe. In einem Brief an Zwinger vom 13.10.1576, ed. Gerstinger 1968, 197-200, taxiert Sambucus seinen Wert mit 100 Gulden.
- ↑ Zwickau, RB, Ms. LXXXV; Titel: "In Procli Hypotyposin Astronomicarum sumtionum scholia cum translatione latina D(omini) Ioachimi Cam(erarii) pab(ebergensis) 1548", Hinweis auf die Hs. von Ulrich Schlegelmilch und Manuel Huth.
- ↑ Huc usque pervenit D[ominus] Camerarius quam lectionem postea prosecutus est D[ominus] Joachimus Rheticus.
- ↑ MBW – Regesten online, Nr. 6597, dat. 10.10.[1552].
- ↑ Vallas Übersetzung erschien postum 1501 bei Aldus in dem enzyklopädischen Werk "De expetendis et fugiendis rebus" (Astrologia III) und wurde wieder abgedruckt in der bei Petri publizierten lat. Ptolemaios-Ausgabe 1541 und 1551.
- ↑ Dudith an Camerarius, dat. 12.11.1568, ed. Szczucki/Szepessy 1995, Nr. 228, hier: S. 77, Z. 31-34: Petebam abs te Πρόκλου Ὑποτύπωσιν τῶν ἀστρονομικῶν ὑποθέσεων Latine abs te docte et eleganter redditam, cuius aliquam particulam mihi Rheticus ostendit. Si licet, impetrem a tua humanitate id muneris loco, ut primum redieris.
- ↑ Basel 1547 u.ö., vgl. auch GG 306.
- ↑ Omnia graece & latine ita coniuncta, ut conferri ab utriusque linguae studiosis, in quorum gratiam eduntur, possint [...].
- ↑ OCEp 0771, dat. 15.10.1558; vgl. auch OCEp 0775, dat. zw. 1555 und 1559.
- ↑ Vgl. dazu die 2022 am Würzburger Lehrstuhl für Latinistik eingereichte Zulassungsarbeit von Ronja Wegrath.
- ↑ Gemeint sind die vier "Problemata Arithmetica" in den "Προγυμνάσματα ῥητορικῶν".
- ↑ Camerarius, De notis numerorum, 1569, O8v.
- ↑ Nürnberg, SB, Cent V, App. 36, dazu Huth masch., 112 und 236.
- ↑ Vgl. hierzu Text und Übersetzung des Kapitels "De proportionibus" in Huth masch., 236-255.
- ↑ OC 0681, A8r; OC 0720, A8r; OC 0747, [A8+]v, B2r [falsche Lagenzählung]; OC 0787, C1r/v.
- ↑ Dec. 2.9, 42-51, griech. u. lat.; dazu auch Huth masch., 263-273 mit Übersetzung.
- ↑ Dec. 9.7, 131-134, lat.
- ↑ Dec. 11.5, 162-165, griech. u. lat.