Workshop Briefe

Aus Joachim Camerarius (1500-1574)
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Einleitung (15')

1. Forschungsstand Briefsammlungen: Huber-Rebenich, Dall'Asta, US - Schwerpunkt Textredaktion, daneben etwas zu Motivation ("Erfurt"; H-R), außerdem Werkcharakter (US)

1.1 Zentrale Aspekte nicht behandelt: Korrespondentenauswahl; Gliederungsprinzipien der Briefbände; Editionskriterien der Söhne

2. Erschließungsstand Datenbank Briefe: Zahlen, Fakten, Struktur

3. Ziel der Sektion und der beiden Teile:

3.1. Vertieftes Verständnis der Briefe

3.1.1 als Einzeltexte: Gattung Brief bei Camerarius; Datierungsfragen; Parallelüberlieferung und Redaktion

NB: Datierungsfragen kommen im weiteren Verlauf dieses Dokuments nicht mehr vor! --US (Diskussion) 23:50, 20. Jan. 2018 (CET)

3.1.2 als Sammlungen: Selbstdarstellung (u.a. durch Korrespondentenauswahl); Gliederungsprinzipien der Briefbände; Editionskriterien der Söhne

NB: Gliederungsprinzipien kommen im weiteren Verlauf dieses Dokuments nicht mehr vor!

3.2 Widmungsbriefe: Gattungsfragen, Widmungspraxis, Topik, Quellenwert

Briefe und Briefsammlungen (45')

Hauptfrage Briefe: (15`)

  • Ein Brief ist im 16. Jh. ein nach bestimmten Regeln verfaßtes literarisches Kunstwerk. Nach welchen? (Gattungsverständnis des Camerarius etc.)
    • Enenkel 2011, S. 6 f.: These: Brief als rhetorisches Medium
    • Enenkel 2011, S. 8-10: These: Öffentlicher Charakter von Briefen (I. im Hinblick auf Veröffentlichung verfasst II. Übergang von privatem und öffentlichem Bereich in früher Neuzeit)
  • Ausklammerung von naturkundlichen und philosophischen Themen (Camerarius, Elementa rhetoricae, 1541, S. 197 ("naturkdl. Briefe sind libri") und Vorwort der Camerarius, Epistolae familiares, 1595, Bl. (:)6v-7v (Kapitel de materia)
    • zum Teil sogar gekürzt, vgl. Camerarius an Rantzau, 11.05.1572 mit Huth 2017, S. 257-259.
    • Geht vielleicht auf Erasmus, Epistolae ad diversos, 4 zurück - vgl. Enenkel 2011, S. 12
    • Zeitgenössische wissenschaftliche Briefsammlungen kürzen tendentiell eher andersherum: privates entfällt (Scholz-Briefe)

In dieser Sektion können nicht besprochen werden:

1. Sonderfall: Brief als Werk: Camerarius, De invocatione sanctorum (gr., Werk), 1545 Im zugehörigen Widmungsbrief wird der Brief als opella bezeichnet, außerdem ist der Druck nach dem Brief benannt. Warum? Nähe zu Flugschriften? Teil einer thematischen Briefsammlung?) 
2. Topoi (hier nicht gezielt ansprechen, sondern in der Widmungsbriefsektion!)
* Tabellarius instat/raptim -> Briefe sind trotzdem ausstilisiert
* Freundschaftstopik
* Zeitenklage
* Korrespondenzbeginn Camerarius an Erasmus, 30.09.1524, Bedrott an Camerarius, 14.09.1536, Bording an Camerarius, 01.02.1554
3. Vermutlich aus Zeit-und thematischen Gründen können wir die Frage nach dem Wesen von Briefgedichten vermutlich nicht ansprechen. Beispiele wären: Camerarius an Hier. Wolf, 15XX b (Wolf solle Ulrich Fugger in Camerarius' Namen danken) Camerarius an Hier. Wolf, (vor dem 10.03.1553) (Briefgedicht und Hodoeporicon), Camerarius an Stiebar, 13.08.1530 (hat Datum)
4. Ebenfalls ausgeklammert würden griech. Briefe
5. Geheime politische Korrespondenz: Verwendung von Geheimtinte

Beiträge auf der Tagung:

  • Dag Hasse: These: Bestimmtes Stilmuster (Erasmus) wirkte menschenbildend und hatte die Funktion, sich als Teil der Gruppe zu identifizieren
  • Woitkowitz: Zur Ausklammerung naturkundlicher Themen: Camerarius weicht auf poetisches Medium oder auf Beiblätter aus, wenn er in Briefen Astrologische Themen behandeln will
  • Woitkowitz: Stilebene bei Camerarius wechselt. Er kann klar schreiben oder dunkel
  • Auch Erasmus hält sich nicht unbedingt an seine eigenen Vorgaben, was den Stil betrifft (wie Camerarius; Stichwort perspicuitas)
  • Dall'Asta: Melanchthon als chronisch überlasteter Briefschreiber --> Brief an Intentionen gebunden; aber in Briefen z.B. an Camerarius wird er durchaus persönlicher


Hauptfragen Briefsammlungen: (30`)

1. Wie konzipiere ich als Editor um 1600 eine Briefsammlung (Vorentscheidung: eigene oder fremde Briefe?; zufällige (Postverlust) und intentionale Faktoren beachten!)

  • Welche Faktoren bestimmen die Auswahl der Briefpartner?
  • Wer wird gedruckt? Wer nicht? --> Vorreden Söhne: keine lebenden Briefpartner; allzu Privates getilgt
  • Gedruckt wird i. d. R. nur eine Hälfte, da der Schreiber zählt
    • für JCI seine Partner (s. aber OCEp 0338, Bl. S 5rv: hier steht, daß JC eigentlich durchaus zum Druck eigener Briefe bereit war!)--US (Diskussion) 22:52, 20. Jan. 2018 (CET)
    • für die Söhne JCI selbst. Das führt dazu, dass die Söhne Erläuterungen in die Briefe einbauten, vgl. Camerarius an Sambucus, 19.02.1574
    • Gedruckt wird nur, was zurückkommt. Manchmal kommen, wenn überhaupt, nur Abschriften zurück: http://www.aerztebriefe.de/id/00009563.

* Ausblick: Kriterien des Enkels Ludwig C. -> Languet-Ausgabe; Parallelfall: die von Friedr. Spanheim auf Drängen des Ludwig C. hg. Briefe von Bongars an JCII, 1647: http://www.aerztebriefe.de/id/00001920, mit starken inhaltlichen Redaktionen in politicis)

Beiträge der Teilnehmer:

  • Woitkowitz: Ab 1560 datierte JC mit Jahreszahl. Söhne versuchten Chronologie einzuhalten. Undatierbare Briefe nachgestellt.
  • Woitkowitz: Briefsammlungen nach Berufsgruppen getrennt. Bedeutendster Korrespondenzpartner in Berufsgruppe kommt dann jeweils zuerst. Weitere Kriterien für Ordnung nicht eindeutig nachvollziehbar. Auch Aussage, wenn jemand am Schluss genannt wird?
  • Woitkowitz: Hinweis auf Johannes Brenz getilgt, vgl. Woitkowitz Aufsatz (Suche nach Hommelius!!!)
  • Warum Stiebar erst in 1595er Ausgabe?
  • Woitkowitz: Memoria / Söhne orientierten sich bei Herausgabe an Kriterien des Vaters
  • Dall'Asta: Bei brisanten Themen Wechsel ins Griechische

2. Welches Bild entwirft Camerarius a) von sich selbst und b) von seinen Briefpartnern (insbesondere von Melanchthon und Carlowitz)? -> Was ist also das Ziel dieses Editionsprozesses aus damaliger Sicht: Biographie/memoria? Autobiographie? Biographieersatz?

  • Äußerungen in den Vorworten der Söhne: memoria
  • Äußerungen in den Vorworten JCIs: Art Quellenbeilage zur Hessusvita (1553 ff); zugl. Rekonstr. der Erfurter Zeit = Autobio / BiogrErsatz für "kleinere" Gestalten wie Niger

3. Was ist das Ergebnis aus heutiger Sicht: "Eine Briefsammlung ist ein Egodokument (Selbststilisierung im sozialen Umfeld)" vs. "Eine Briefsammlung ist eine Quelle"

  • Enenkel 2011, S. 15: "Die Annahme, dass uns Gelehrtenbriefe, namentlich neulateinische Gelehrtenbriefe einen direkten Zugang zu historischen Wirklichkeiten liefern würden, erscheint mir fragwürdig."
  • Probleme bei Verwendung als Quelle: Textredaktionen (durch Autor), Textredaktionen (durch Hg.; auch irreführend, z.B. OCEp 0331 (Art Binnenproöm) -> 1159 (aus Kontext gerissen und sprachlich verunklärt)

Widmungsbriefe (45')

Input (10')

  • Verweis auf Quellentexte in der Cloud
  • Forschungsstand Widmungsbriefe (Schottenloher, Toepfer, Enenkel 2015)
  • Ganz kurz zum Paratextbegriff

Hauptfragen Widmungsbriefe (35'):

Vorab: Frage nach Erfahrungen der Teilnehmer mit Widmungsbriefen. Dann:

Bei dieser Diskussion sollen die verschiedenen Stadien und Entscheidungsprozesse bei der Abfassung eines Widmungsbriefes simuliert und (an Beispielen) besprochen werden. Stellen Sie sich also vor, sie lebten im 16. Jahrhundert und wollten jemandem ein (schon von Ihnen verfasstes) Werk widmen. Welche literarischen und sozialen Regeln hätten Sie zu beachten? Im Einzelnen ergeben sich die folgenden Fragen:

1.1. Wozu würden Sie den Widmungsbrief verfassen? Zunächst würden Sie sich Gedanken über den Zweck machen der Widmung machen. Was wollen Sie mit ihr erreichen?

  • Selbstdarstellung?
  • finanzielle Vorteile?
  • Vernetzung? (vgl. Enenkel 2015, S. 53: Dedikation als "Zugangsausweis" für die gelehrte Welt)

Weitere Funktionen (durch Beiträger):

  • Tobi Dee: Polemik (nicht bei JC)
  • Dall'Asta (Reuchlin-BW): Patronage und handfester Nutzen (um Handschriften zu bekommen; Ausbau von Gymnasien)
  • Dag Hasse: Aus Widmungsbriefen lässt sich Programmatik für Humanismus ablesen
  • Dag Hasse: Vergleich mit Leonhard Fuchs würde sich lohnen. Leonhard polemisiert gegen Araber und übertreibt etwas, um eigene Position zu promoten

--> Idee von MG (26.02): Camerarius hatte die Selbststilisierung und Bewerbung nicht so nötig, da er immer Melanchthon im Rücken hatte!!!

  • Woitkowitz: Widmungsbriefe bei Camerarius nehmen i.d.R. auf konkrete historische/wirkliche Ereignisse Bezug! Aufbau: Wendung an Adressat / (...) Wie Camerarius dazu kommt, das Werk zu verfassen / über das Werk selbst / Nutzen für Studia / (...) Erneute Wendung an Adressat --> Ggf. nochmal fragen
  • Woitkowitz: Bis 1540 v. a. Freunden gewidmet. Wenige Fürsten als Empfänger. Finanzielle Interessen spielten wohl keine Rolle, da Camerarius wohlhabend war
  • Woitkowitz: Camerarius bedankt sich bei Fachs für Berufung
  • MG (und ähnlich JS): Camerarius stilisiert sich selbst als Praeceptor
  • MG: über translatio amicitiae werden auch Söhne Widmungsempfänger. // Camerarius wurde gar nicht so richtig als (schlimmer) Reformator wahrgenommen, vgl. Gauricohoroskop

1.2. Wie würden Sie den Widmungsbrief verfassen? Anschließend würden Sie sich fragen, wie Sie ihr Ziel umsetzen könnten. Dabei sind insbesondere drei Aspekte relevant:

1.2.1. Der soziale Aspekt: Wem würden Sie das Werk widmen?

Von welchen Faktoren wird die Wahl bestimmt (Werkinhalt; Ziele)? Welchen sozialen Rang bekleidet der Dedikationsempfänger? Welche Konsequenzen hat die Wahl des Adressaten für den Widmungsbrief? Sonderfälle: Was, wenn Sie nicht selbst den Adressaten bestimmen können? In welchen Fällen würden Sie den Widmungsbrief nicht selbst verfassen, sondern in Auftrag geben? (Rheticus!)

* Werkinhalt kann Adressatenkreis mitbestimmen; materielle Aspekte; Aufstiegswunsch -> ansteigender Rang der Widmungsempfänger?; Selbstdarstellung über Beziehung zum Adressaten; Sonderfälle: "Fremdbestimmte" und fremde WBre sowie bestellte Geleitschreiben)
* Unterscheidung nach Mäzenen und Nichtmäzenen; Fürsten und Nichtadligen; Abgleich zwischen Liste der Widmungsempfänger und Briefempfänger > wenig Überschneidungen) 
* Stilhöhe und Inhalt kann vom Adressaten abhängen und umgekehrt; zudem Toepfer (Stelle nachtragen): Instrumentalisierung des Widmungsempfängers im Dialog des Autors mit dem Leser

1.2.2. Der formale Aspekt: Wie würden Sie den Widmungsbrief formulieren?

Wie würden Sie den Adressaten und sich selbst über das Verhältnis zu ihm darstellen? Welche stilistischen Regeln würden Sie (abhängig von der Wahl des Adressaten) beachten? Würden Sie sich an Cicero und Erasmus (s. Schottenloher 4-11) orientieren? Welche Topoi würden Sie verwenden? Wozu würden Sie überhaupt Topoi verwenden (evtl. Diskussion der Ansätze von Toepfer, S. 93-96 und Enenkel)?
Zur Topik allgemein 3 verschiedene Ansätze:

* Enenkel 2015, S. 24: Altbekanntes Standardthema, das der Konstruktion von Autorschaft dient; 
* Topos immer an rhetorische Funktion geknöpft;
* Topos als Instrumentarium der eigenen Lebenswelt, welches das Denken geprägt hat (Man hat sich also gleichsam mit dem Denken in Topoi sozialisiert).

Verschiedene Topoi:

* Niedergang der Studien (Erfurt als Paradies) / Übergewicht der Politik gegenüber den artes (auch Generationenerfahrung der Reformationszeit?) / Unordnung der Gegenwart als Schock für den Ordner JC, vgl. Camerarius an Hier. Wolf, (vor dem 10.03.1553)
* Vermittlung exklusiven (griechischen) Wissens (Besitz einer Aldine) / Selbststilisierung als Lehrerender gegenüber Widmungsempfänger Camerarius an Perlach, 12.04.1532 
* Landflucht (Boccaccio;Pirckheimer; JC de theriacis; JC Tusc.)
* Bitte von Freunden, Verlegern, Druckern

1.2.3. Der inhaltliche Aspekt: Was würden Sie in den Widmungsbrief schreiben?

Welche Informationen zur Werkgenese und zum Werkinhalt würden Sie in den Widmungsbrief schreiben?

Würden Sie zusätzlich noch ein Proöm verfassen oder hat der Widmungsbrief bereits dessen Funktion übernommen (vgl. Toepfer, S. 88-93; Enenkel 2011, S. 6-8; Roper 2010)? Wie sieht es mit einem zusätzlichen Brief an den Leser aus? Was unterscheidet Widmungsbrief, Brief an den Leser und Proöm?

  • Widmungsbrief und Proöm lassen sich nicht immer klar unterscheiden, Beispiel: Camerarius an Valentin Sturtz, 15.05.1548: cum hac quasi praefatione nostra
  • Proöm und Brief an den Leser lassen sich nicht immer klar unterscheiden, Beispiel: Roper 286 "the preface which is a kind of letter to the reader"

Ist die Form eines Proöms abhängig von der Gattung des dazugehörigen Werkes? Kann man in manchen Fällen einfach kein Proöm voranstellen - wie bei Werkausgaben?

Briefe an Leser und Widmungsgedichte tendenziell inhaltsarm und kurz? Beispiel für Widmungsgedicht an Leser: Gillis, Lectori, 1539 (Kaufempfehlung) - Aber: Camerarius, Ioachimus Camerarius ad lectorem, 1538 ist ein Gegenbeispiel, denn Camerarius äußert sich dort zu editorischen Prinzipien

2. Wie werden Widmungsbriefe rezipiert?

2.1 Heute: Widmungsbriefe als Quelle für Konstellationen und Werkgenese

Inwiefern eignen sich Widmungsbriefe als Quellen für die Analyse von Konstellationen und die Werkgenese? Mit welchen Schwierigkeiten hat der moderne Bearbeiter zu kämpfen?

  • US/MH: Beste Quelle und man kann Selbststilisierung von Camerarius und Umfeld nachvollziehen

2.2. Damals

Weniger klar ist die zeitgenössische Rezeption: Welche Bedeutung hat die Lektüre eines Widmungsbriefes für den zeitgenössischen Leser? (Und: Was hat der zeitgen. Leser von der Lektüre einer fremden Briefsammlung?)

  • MH/JS: Wir kennen nur den Seidelbrief, der aber subjektiv ist
  • Matthias Dall'Asta: Vielleicht helfen Annotationen und Unterstreichungen von Dritten in Widmungsbriefen
  • Matthias Dall'Asta: Briefausgaben als aemulatio mit den Italienern