Camerarius an Seidel, 01.03.1568

Aus Joachim Camerarius (1500-1574)
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 Briefdatum
Seidel an Camerarius, 30.09.156330 September 1563 JL
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 Briefdatum
Camerarius an Seidel, 01.03.15681 März 1568 JL

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Werksigle OCEp 0372
Zitation Camerarius an Seidel, 01.03.1568, bearbeitet von Manuel Huth und Anne Kram (17.01.2021), in: Opera Camerarii Online, http://wiki.camerarius.de/OCEp_0372
Besitzende Institution
Signatur, Blatt/Seite
Ausreifungsgrad Druck
Erstdruck in Camerarius, Epistolae doctorum, 1568
Blatt/Seitenzahl im Erstdruck Bl. E6v-F1v
Zweitdruck in
Blatt/Seitenzahl im Zweitdruck
Sonstige Editionen
Wird erwähnt in
Fremdbrief? nein
Absender Joachim Camerarius I.
Empfänger Bruno Seidel
Datum 1568/03/01
Datum gesichert? nein
Bemerkungen zum Datum Cal. Martii
Unscharfes Datum Beginn
Unscharfes Datum Ende
Sprache Latein
Entstehungsort Leipzig
Zielort o.O.
Gedicht? nein
Incipit Quintus iam agitur annus
Link zur Handschrift
Regest vorhanden? ja
Paratext ? nein
Paratext zu
Kurzbeschreibung
Anlass
Register Werkgenese; Stilkritik; Nachlass (Hessus); Nachlass (Mutian)
Handschrift unbekannt
Bearbeitungsstand validiert
Notizen
Wiedervorlage ja
Bearbeiter Benutzer:MH; Benutzer:AK
Gegengelesen von Benutzer:US
Datumsstempel 17.01.2021
Werksigle OCEp 0372
Zitation Camerarius an Seidel, 01.03.1568, bearbeitet von Manuel Huth und Anne Kram (17.01.2021), in: Opera Camerarii Online, http://wiki.camerarius.de/OCEp_0372
Ausreifungsgrad Druck
Erstdruck in Camerarius, Epistolae doctorum, 1568
Blatt/Seitenzahl im Erstdruck Bl. E6v-F1v
Fremdbrief? nein
Absender Joachim Camerarius I.
Empfänger Bruno Seidel
Datum 1568/03/01
Datum gesichert? nein
Bemerkungen zum Datum Cal. Martii
Sprache Latein
Entstehungsort Leipzig
Zielort o.O.
Gedicht? nein
Incipit Quintus iam agitur annus
Regest vorhanden? ja
Paratext ? nein
Register Werkgenese; Stilkritik; Nachlass (Hessus); Nachlass (Mutian)
Datumsstempel 17.01.2021


Regest

Fünf Jahre sei es nun schon her, dass Seidel ihm seine Hilfe angeboten (vgl. Seidel an Camerarius, 01.05.1563) und nicht geringe Anstrengung unternommen habe, Briefe und andere Zeugnisse von Gelehrten der vorhergehenden Generation zu sammeln und abzuschreiben, was Camerarius so sehr von ihm erstrebt hatte. Obwohl er sie immer zusammen mit einigen vergleichbaren Dokumenten aus seinem Besitz drucken und herausgeben wollte und sehr viel Mühe darauf verwendete, habe er das Vorhaben bisher aufgrund ständiger Verzögerungen nicht beenden können. Mal seien die Druckpressen belegt gewesen, mal sei er von anderen Aufgaben, mal von Reisen von diesem Vorhaben abgehalten worden, mal sei er krank gewesen. Aber der jetzige Zeitpunkt sei eben für dieses Unternehmen bestimmt gewesen, sodass es vorher nicht vollendet werden konnte. Hoffentlich seien die Umstände nun günstiger für seine Bemühungen. Wie auch immer die Sache ausgehe, er schulde Seidel sehr viel für seine Gefälligkeiten.

Wie Seidel geschrieben habe, wirkten die von Eoban als jungem Erwachsenen verfassten Gedichte tatsächlich noch wie Jugendwerke (iuvenilia) und hätten nicht die Schönheit und reine Kraft (virium integritatem), die sich in den von Hessus veröffentlichten Gedichten zeige. Dennoch seien auch sie für Gebildete lesenswert und für Aufmerksame durchaus unterhaltsam und nützlich, da in ihnen die herausragenden Versuche eines begabten Mannes erkennbar seien und man nachvollziehen könne, von wo seine (dichterischen) Bestrebungen (contentio) ihren Ausgang nahmen und wohin sie sich entwickelten. So wie man bei den Geschichten über die Arbeiten des Herkules zwar die großen Kämpfe bewundere, aber sich auch gerne vorstelle, wie der Junge in der Wiege die Schlangen erwürgt habe, so nähmen auch die, die sich für Bildung interessierten, eingehend und freudig zur Kenntnis, was manche in ihrer Jugend als Vorgeplänkel zu ihren (späteren) vollendeten Werken verfassten (proluserunt). Denn die Betrachtung jenes oben beschriebenen Fortschrittes, den die Griechen προκοπή nannten, bringe keinen geringen Nutzen. In seinem jugendlichen Überschwang erkenne man das Talent Eobans (ingenium) und sein Bemühen um Kunstfertigkeit (ars). Wenn diese beiden Dinge zusammenkämen, brächten sie allen menschlichen Erzeugnissen höchsten Ruhm. Wenn aber jemand eines dieser beiden Dinge nicht besitze, bleibe der Ruhm aus oder vergehe. Ennius, der sehr viel Talent (ingenium) besaß, werde weniger gelobt, weil er – wie Ovid sagte (vgl. Ov. trist. 2,424) – die Kunst (ars) nicht beherrschte. Sein Ruf sei schlechter als der eines beliebigen anderen, der laut jenem Dichter kein ingenium besitze, sondern nur ars (vgl. Ov. am. 15,14).

Er erinnere sich an einen Satz ihres Freundes Jakob Milich, dessen Forschungsinteresse zwar den Naturwissenschaften und der Medizin galt, der aber dennoch versuchte, ein Liebhaber der Dichtkunst zu bleiben und diese hohe Kunst zu bewahren. Dieser pflegte also zu sagen, dass er gesehen habe, wie Eobanus Hessus gleichzeitig geschrieben und Verse gedichtet habe und wie er weitere Verse nach dem Schreiben und einige davor gedichtet habe. So wollte er hervorheben, dass sich bei Eoban (Hessus) Talent und fleißiges Bemühen um die Kunst so sehr verbänden, dass sie sich beide gleichzeitig weiterentwickelten und nicht das eine hinter dem anderen zurückblieb. Denn andere würden erst etwas (in Prosaform) aufschreiben und es dann in Versform bringen oder etwas erst lange Zeit im Kopf entwerfen und es dann aufzeichnen. Bei Eoban sei es aber so, dass man, obwohl er nichts veröffentlichte, ohne eine sich bei der Durchsicht um eine sorgfältige Ausfeilung bemüht zu haben, er nur selten etwas und auch dann nur wenig in seinen Entwürfen fand, das überarbeitet werden müsste. Camerarius selbst sei der beste Zeuge dafür, da Hessus ihm in ihrer gemeinsamen Zeit (in Nürnberg) oft seine Manuskripte, vor allem Übertragungen aus dem Griechischen, zur Durchsicht gegeben und ihm seine ersten Entwürfe geschickt habe.

Was die übrigen Schriften (aus dem Briefband), vor allem die des (Konrad) Mutianus, anbelange, so habe er ein anderes Mal darüber gesprochen und seine Meinung kundgetan, da er den Eindruck habe, sie ließen an Sorgfalt bei Wortwahl und Satzbau zu wünschen übrig. Es verhalte sich aber so, dass jeder eine andere Art zu schreiben (forma scriptorum) bevorzuge und für schön halte, wie es auch bei Gesichtern sei. Und laut Theokrit erscheine den Liebenden oft das Unschöne als schön (Theocr. Id. 6,19). Deswegen solle also gelten: Mir das Meine, dir das Deine. Die Ausdrucksweise in den Schriften des Mutianus sei auf ihre Art gut, denn sie sei nicht nachlässig und verdiene sogar Lob. Denn sie gebe ein gutes Beispiel für freie Rede ab, die von allen Fesseln eines anderen Vorbilds und dem Zwang der Nachahmung dieses oder jenes Schriftstellers gelöst sei. Dabei habe sich Mutianus eher darum bemüht, sowohl gewichtige als auch witzige Sätze mit wenigen Worten zu verbinden, als seine Gedanken deutlich und ausführlich zu erklären. Er habe es sich auch herausgenommen, Wörter zu erfinden, die die lateinischen Autoren nicht verwendet hatten, sei es, indem er Wörter ableitete, zusammensetzte oder sonstwie verfuhr. In seinem Bestreben, die Wörter nicht nur zusammenzufügen, sondern sie auch zu prüfen (? examinandi), sei er etwas nachlässig gewesen - vor allem dann, wenn der Text nicht überarbeitet, verbessert und nachträglich ausgefeilt wurde (lima perpoliendi), weil der Autor entweder von anderen Aufgaben in Beschlag genommen war oder weil er zwar nicht die Mühe der Durchsicht gescheut habe, aber zugleich seine Fähigkeit zur Schau stellen wollte, aus dem Stegreif zu schreiben. So wie diese Art zu schreiben Lob verdiene, wenn sich hoch gebildete und talentierte Männer ihrer bedienten, so sei sie bei anderen unnütz und albern, die keine Redegabe und keine eigenen Ideen (concepta) hätten. Die Texte jener Leute wirkten wie planlos zusammengenähte Stoffstücke und enthielten keine erklärenden Worte oder ausgefeilten Sätze. Wenn man aber nach einem tadellosen antiken Beispiel suche, lägen die Briefe Senecas auf der Hand, und die Briefe des Plinius seien innerhalb dieser Gattung ein Beispiel für außergewöhnliche sprachliche Schönheit.

In der Zeit des Mutianus habe sich Erasmus von Rotterdam, ein sehr gelehrter und talentierter Mann, hervorgetan. Indem er längere zusammenhängende Perioden gebildet und sie nicht mehr gliedweise zerstückelte, habe er ausführliche, wortreichere Texte verfasst. Zudem habe er Schriften herausgegeben, die den Gebrauch der lateinischen Sprache gefördert und ihn gegen die die (sprachliche) Barbarei verteidigt hätten. So wie sich seine Schriften durch eine blumige Anmut und Schönheit auszeichneten, die zu Beginn alle auf wundersame Weise in ihren Bann zog, so vermissten aufmerksamere Leser später zunehmend die Erhabenheit (gravitas) und Ausdrucksstärke (vires) in ihnen, vor allem aber einen gleichförmigen einheitlichen Gang der Rede, und störten sich am Wortreichtum und an der stellenweise epischen Wortfülle (minus puro quasi flumine abundantis orationis; s. Anm.).

Und so wandten sich bald die Studien der Wahrheit (wohl: dem wahren Ideal) zu, und man habe sich beim Reden und Schreiben so sehr an das mustergültige antike Vorbild gehalten, dass bei Veröffentlichungen gleichsam die Farbe natürlich und ungeschminkt wie bei einem gesunden Körper wirkte. Vor allem zwei Männer hätten sich darum verdient gemacht, Pietro Bembo und Jacopo Sadoleto. Sie hätten die Ehrwürdigkeit dieser Kunstform (disciplinae sanctitas) wiederhergestellt und sowohl die unsinnige Verwendung eines archaisierenden Schreibstils abgelehnt als auch Nachlässigkeiten bei der Nachahmung des lobenswerten antiken Stilideals kritisiert und somit dazu beigetragen, dass sehr viele ihre Texte wieder mit mehr Eifer überarbeiteten, so dass sie als gebildet und vollkommen gelten konnten.

Aber zurück zu den Briefen Mutians. Jeder könne leicht erkennen, dass sie aus dem Stegreif geschrieben, nicht ausgearbeitet und nicht für die breite Veröffentlichung gedacht gewesen seien. Dennoch sei Camerarius überzeugt, dass sie seinen guten Ruf nicht schmälern und sogar zu seiner Bekanntheit beitragen würden. Außerdem glaube er, dass die Leser Nützliches und Unterhaltsames aus ihnen ziehen können. Deshalb habe er sich also dazu entschlossen, sich nun durch keine weiteren Verzögerungen mehr von der Edition der Briefe abhalten zu lassen.

Seidel solle ihm nachsehen, dass er in diesem Brief so ausführlich darüber geschrieben habe. Aber er habe das alles nicht erwähnt, um ihn zu belehren, da er sich ja ebenso gut wie er selbst auskenne, sondern um eventuelle andere unwissende Leser dieses Briefes davon in Kenntnis zu setzen. Er danke Seidel für die Hilfe bei der Vorbereitung seiner Edition und bitte ihn, seinen Dank auch an alle anderen Beteiligten zu überbringen, vor allen an Gerlach von der Marten. Als junger Mann in Erfurt habe Camerarius die für ihre Abstammung, Redlichkeit und Gelehrtheit bekannte Familie gekannt und vielleicht kenne Gerlach auch ihn.

Seidel möge es gut gehen und auch seiner Universität (Erfurt). Lebewohl.

(Anne Kram / Manuel Huth)

Anmerkungen

  • „an der stellenweise epischen Wortfülle“: Camerarius spielt hier auf das kallimacheische Dichtungsideal an. Mit dem Bild vom großen Strom, der viel Schmutz mit sich führt, wird die epische Wortfülle zugunsten des klaren Quellrinnsals des gesuchten, kurzen Ausdrucks abgelehnt (vgl. Call. Ap. 108-112).

Literatur und weiterführende Links